«Ich bin eine Art Psychiater des Film regisseurs» - Kino Zürich
Sein letzter Film lauft nun im Kino Zürich. Als Cutter hat der in Hollywood arbeitende Pietro Scalia schon alles erreicht. Für «JFK» und «Black Hawk Down» erhielt er je einen Oscar. Jetzt spricht Scalia über seine Arbeit mit Oliver Stone und Ridley Scott.
Herr Scalia, Sie sitzen am Filmfestival in Venedig zum ersten Mal in einer Wettbewerbs-Jury - eine besondere Ehre für Sie?
Pietro Scalia: Ja, besonders, weil mich der neue Direktor Marco Müller persönlich eingeladen hat. Müller ist ja, wie ich selber, Italiener milt einer besonderen Verbindung zur Schweiz. Er leitete von 1992 bis 2000 das Filmfestival von Locarno.
Sie sind in Sizilien geboren, in Aarau aufgewachsen und leben seit 20 Jahren in den USA. Welchem Land fühlen Sie sich am ehesten zugehörig?
Scalia: Nun, in Amerika sagt man mir nach, ich besässe die perfekte Kombination von italienischer Sensibilität und schweizerischer Koordinationsfähigkeit (lacht). Tatsächlich habe ich von allem etwas in mir. Allerdings ist mein Schweizerdeutsch inzwischen etwas eingerostet.
Unter Ihren Jury-Kollegen finden sich klingende Namen wie Scarlett Johansson oder Spike Lee. Wussten diese beiden eigentlich, wer Sie sind?
Scalia: Oh ja. Spike Lee kam als Erstes zu mir und wollte sofort wissen, wie das war, mit Oliver Stone zu arbeiten. Stundenlang quetschte er mich über «JFK» aus. Ob das wirklich ich gewesen sei, der diese Anfangsszene geschnitten habe? Ich bejahte. Und Spike Lee meinte: «Das war der beste Schnitt der Welt.» Das tut natürlich gut, von einer Regie grösse solches Lob zu hören.
Aber wie wars denn wirklich, mit Oliver Stone zu arbeiten?
Scalia: Es war grossartig. Und es war gleichzeitig die Hölle. Mit Oliver Stone einen Film zu drehen, das ist wie in einen Krieg zu ziehen. Wir mussten kämpfen.
Wer gegen wen?
Scalia: Im Prinzip alle gegen alle, hauptsächlich aber die Filmcrew gegen die Filmproduzenten.
Sie drehten zwischen 1987 und 1991 fünf Filme mit Oliver Stone. Wie kam das?
Scalia: Nach meiner Studienzeit in Los Angeles hatte ich mir genau überlegt, mit wem ich arbeiten wollte. Von Oliver Stone hatte ich den Kriegsthriller «Salvador» (1986) gesehen und war total begeistert. Da war ein junger Filmemacher angetreten, der über einen eigenen dokumentarischen Stil verfügte. Zudem hatte Stone bereits einen Oscar für sein Drehbuch zu «Midnight Express» (1978) erhalten.
Umso schwieriger, in sein Team zu kommen, stelle ich mir vor. Wie hatten Sie das geschafft?
Scalia: Wie das in Hollywood so läuft - über Beziehungen. Ich hatte mich ursprünglich schon für «Platoon» (1986) beworben, wurde dann aber auf «Wall Street» (1987) vertröstet. Da bekam ich die Stelle eines Assistenz-Cutters. Und es gelang mir, mich hochzuarbeiten, bis mir Oliver Stone für «JFK» schliesslich den Posten des Chef-Cutters anbot.
Wofür Sie gleich beim ersten Anlauf einen Oscar erhielten. Was war das für ein Gefühl?
Scalia: Unbeschreiblich. Ich hatte ja vorher eine unglaubliche Panik.
Weshalb?
Scalia: Man hatte im Vorfeld meine Arbeit stets gelobt. Aber wenn man dann im Auditorium sitzt, wird einem bewusst: Da sind noch vier andere hervorragende Werke im Rennen. Ich habe wirklich gezittert.
Und dann?
Scalia: Dann wurde mein Name verlesen - und alle Angst war wie weggeblasen. Ich stehe auf der Bühne, und in der ersten Reihe applaudieren mir Stars wie Tom Cruise. Ein tolles Gefühl.
Was bedeuten Ihnen diese beiden Oscars heute?
Scalia: Sie haben mir ermöglicht, nicht immer beim erstbesten Projekt zuzusagen. Ich kann mir jetzt den Luxus erlauben abzuwarten. Und ich kann Regisseure anfragen, ob Sie mit mir drehen wollen, statt umgekehrt.
Sie haben nicht nur mit Oliver Stone, sondern auch mit Ridley Scott mehrmals zusammengearbeitet. Warum?
Scalia: Für einen Cutter ist es enorm wichtig, dass er ein gutes Vertrauensverhältnis zu seinem Regisseur hat. Je länger man sich kennt, desto besser weiss man, was der andere will. Als Cutter bin ich eine Art Psychiater, der verstehen muss, was der Regisseur ausdrücken möchte.
Und die Schauspieler - müssen Sie die auch verstehen?
Scalia: Ja. Ich muss im Prinzip bei jeder einzelnen Szene begründen können, weshalb ich diese und nicht jene Einstellung will - den Schauspielern und dem Regisseur gegenüber. Ein Oliver Stone funktioniert da aber ganz anders als ein Ridley Scott.
Inwiefern?
Scalia: Ridley Scott hat ein ausgezeichnetes Auge. Er komponiert seine Bilder wie ein Maler. Diese Ästhetik mag ich eigentlich nicht besonders.
Weshalb nicht?
Scalia: Ich bevorzuge Bilder, bei denen nicht alles stimmt.
Was reizte Sie dennoch mit Ridley Scott zusammenzuarbeiten?
Scalia: Er schenkte mir sein Vertrauen, damit ich die Szenen auswähle, welche nicht perfekt wirken, sondern einen etwas schrägen Touch haben.
Wie schätzen Sie im Vergleich dazu Oliver Stone ein?
Scalia: Stone hat wesentlich direktere Ideen, politischere Ambitionen und einen intellektuelleren Zugang. Stone ist purer Sturm und Drang. Bei ihm dreht sich immer alles um Leben und Tod. Ridley Scott dagegen ist eher der feinfühlige Künstler.
Sie drehten auch mit Bernardo Bertolucci («Little Buddha», 1993) und Gus van Sant («Good Will Hunting», 1997). Wie würden Sie deren Arbeit charakterisieren?
Scalia: Mit Bertolucci zu arbeiten, war eine meiner schönsten Erfahrungen. Für mich ging da ein Traum in Erfüllung, endlich mit einem der besten europäischen Filmemacher zu drehen.
Was blieb Ihnen von den Dreharbeiten in Erinnerung?
Scalia: Bertolucci sagte mir immer wieder: Es liegt an dir, das Design meiner Szenen zu entdecken.
Von daher scheint er am ehesten vergleichbar mit Ridley Scott.
Scalia: Ja, und 180 Grad verschieden von Oliver Stone. Bei Bertolucci spürt man in jedem Moment seine grosse Liebe zum Kino. Es ist aber auch sein äusserst herzlicher Umgang mit den Schauspielern und der Crew, der die Arbeit mit ihm unvergesslich macht.
Und wie war das mit Gus Van Sant?
Scalia: Ähnlich wie mit Bertolucci. Gus van Sants malerische Bilder haben eine unglaubliche Leichtigkeit und Poesie. Ich erinnere mich noch, dass wir «Good Will Hunting» zuhause bei Gus van Sant in Portland geschnitten haben. Gus sass hinter mir und spielte auf seiner Gitarre.
Wie bitte?
Scalia: Ja, er spielte tatsächlich auf seiner Gitarre. Und ich fragte mich: Sieht er überhaupt zu, was ich mache?
Und?
Scalia: Oh, er wusste immer ganz genau, an welcher Stelle ich gerade war. Ich konnte seine Augen im Rücken förmlich spüren.
Kommen Sie eigentlich auch mit den Schauspielern in Kontakt?
Scalia: Ja. Während der Dreharbeiten ist das immer wie eine kleine Familie. Nachher kommen die Schauspieler auch nochmals ins Studio, um ihre Stimmen nachzusynchronisieren.
Was macht einen guten Cutter aus?
Scalia: Die Arbeit des Cutters besteht darin, aus Einzelteilen ein Ganzes zu formen und dafür einen eigenen Rhythmus zu finden. Die Technik allein zu beherrschen, genügt nicht. Als guter Cutter muss man - genau wie ein guter Drehbuchautor, Schauspieler oder Regisseur - eine Geschichte mit einer eigenen Stimme erzählen können. Die meisten Leute glauben ja, dass ein Film zuerst gedreht und dann im Nachhinein wie ein Puzzle zusammengesetzt werde. In den USA wird ein Film aber immer schon während der Dreharbeiten geschnitten.
Was ist da Ihre Aufgabe?
Scalia: Ich muss die besten Szenen aus Hunderten von Metern Material zusammenstellen, provisorische Musik suchen, Toneffekte und Dialoge verbessern. Ein bis zwei Wochen nach den Dreharbeiten ist dann eine erste Schnittfassung fertig.
Und was geschieht dann?
Scalia: Dann beginnt die Phase des «rewritings». Da überlegen der Regisseur und ich, was das Herz des Filmes ausmacht. Wir fragen uns, was hat funktioniert, was nicht, was lässt sich beschleunigen, auf welche Figuren können wir verzichten?
Und dann?
Scalia: Wenn diese Fragen geklärt sind, haben wir eine «Roadmap». Wir wissen, in welche Richtung wir fahren. Dann finden die ersten Testvorführungen statt, die endgültige Musik wird dazugemischt und das Originalnegativ geschnitten.
Wie lange dauert das insgesamt?
Scalia: Für einen grossen Hollywood-Film muss ich zwischen neun und zwölf Monaten rechnen.
Worauf legen Sie bei Ihrer Arbeit besonderen Wert?
Scalia: Für mich geht es darum, durch den Schnitt verschiedene Niveaus des Films zur Geltung zu bringen. Bei «JFK» zum Beispiel geschehen verschiedene Dinge gleichzeitig. Präziser ausgedrückt: Man kann dem Zuschauer mithilfe des Schnitts den Eindruck vermitteln, dass einzelne Dinge gleichzeitig passieren. Oder man kann ihm suggerieren, dass eine Szene realistisch passiert, eventuell passiert oder nur geträumt ist. Wichtig ist, dass der Zuschauer immer weiss, an welcher Stelle er sich gerade befindet.
Wann ist für Sie eine Geschichte optimal erzählt?
Scalia: Wenn sie einen eigenen Rhythmus hat. Wenn ich zum Beispiel gute Musik höre, kann ich nicht sagen, dass mir dieser oder jener Ton besonders gut gefällt. Ich fühle es am Ganzen. Beim Schnitt ist es dasselbe.
Haben Sie Ambitionen, einmal einen eigenen Film zu drehen?
Scalia: Ja. Nach «Black Hawk Down» haben mir viele Leute gesagt: Jetzt musst du endlich deinen eigenen Film machen. Ich habe in den letzten Monaten einige Projekte entwickelt. In diesem Herbst hätte ich eigentlich meinen ersten Film - halb Hitchcock, halb Sergio Leone - für MGM drehen sollen.
Weshalb «eigentlich»?
Scalia: Die Company wird gerade verkauft. Deshalb ist das Projekt auf Eis gelegt. Aber ich habe noch andere Projekte in Entwicklung, darunter auch eines, in dem mir Ridley Scott als «Godfather» (sprich: Executive Producer) beistehen wird. Ich werde also zweifellos meinen ersten Film machen. Nur: Mein Brot werde ich auch in Zukunft vor allem als Cutter verdienen.
Pietro Scalia «Ein guter Film-Cutter muss aus Einzelteilen ein Ganzes formen und dafür einen eigenen Rhythmus finden.» kurt krieger
Mit Oliver Stone einen Film zu drehen, das ist wie in einen Krieg zu ziehen
Ridley Scotts Bildästhetik mag ich eigentlich nicht besonders
Stationen einer Karriere
Pietro Scalia ist 1960 in Sizilien geboren. Ein Jahr später zogen seine Eltern in die Schweiz. Scalia wuchs in Aarau auf. Nach der Kantonsschule wollte Scalia mit Stipendien des Kantons Aargau in den USA eine Filmschule besuchen. Nach einer Grundausbildung in Upstate New York wurde er an der renommierten UCLA (Los Angeles) aufgenommen, wo er fünf Jahre studierte. Sein UCLA-Abschlussfilm wurde 1985 auch an den Solothurner Filmtagen gezeigt.
Nach seiner Ausbildung wollte Scalia in die Schweiz zurückkehren. Dann entschied er sich jedoch, mittels eines Arbeitsvisums sein Glück in den USA zu versuchen. «Ich realisierte, dass meine eigentliche Stärke im Schneideraum ist», sagt Scalia heute. «Ich sagte mir, wenn ich mit guten Regisseuren zusammenarbeite, kann ich den Beruf des Filmemachens von innen heraus erlernen.»
Von 1987 bis 1991 drehte Scalia mit Regisseur Oliver Stone. Für «JFK» (1991) arbeitete er erstmals als Chef-Cutter und erhielt auf Anhieb einen Oscar. Es folgten Filme mit Bernardo Bertolucci («Little Buddha», 1993) und Gus van Sant («Good Will Hunting», 1997). Für letzteren erhielt Scalia eine Oscar-Nomination. Mit Ridley Scott drehte er «G. I. Jane» (1997), «Gladiator» (2000, Oscar-Nomination), «Hannibal» und «Black Hawk Down» (beide 2001). Für Letzteren bekam Scalia seinen zweiten Oscar.
JFK «Oliver Stone ist purer Sturm und Drang»
Black Hawk Down «Ridley Scott kom poniert seine Bilder wie ein Maler»